Montag, 17. September 2012

"Peace Wall"?!

Bis jetzt hat sich dieser Blog thematisch schwerpunktmäßig mit Tesco, Anstreichern, Putzen und Müll auseinandergesetzt, aber jetzt wird etwas "schwierigere" Lektüre folgen. Miri, Roberto und ich sind nämlich heute mit Alec nach Londonderry (oder Derry) gefahren und haben uns dort und bei unserem Zwischenstopp in Belfast die Gegenden angeschaut, in denen noch heute Konflikte zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind.
Wie ihr ja vielleicht auch gehört/gelesen habt, gab's in Belfast in den letzten Wochen vermehrt Unruhen, was auch der Grund dafür war, dass Alec uns bei unserem ersten Besuch nicht in die "Brennpunkte" geführt hat. Miri und ich dachten beide, dass der Streit zwischen Katholiken und Protestanten einen Großteil der Spannungen ausmacht, aber eigentlich haben diese heutzutage eher einen politischen Ursprung. Dabei gibt es auf der einen Seite die Nationalisten, die möchten, dass Nordirland ein Teil Irlands wird, und auf der anderen Seiten die Loyalisten oder Unionisten, die weiterhin zu Großbritannien gehören möchten. Was uns wirklich aufgefallen ist, sind die vielen Flaggen und Wimpelketten an den Häusern und in den Straßen, an denen man erkennen kann, ob in diesem Gebiet hauptsächlich Nationalisten (Katholiken) oder Loyalisten (Protestanten) wohnen. Neben diesen offensichtlichen "Markierungen" hat uns Alec allerdings auch erklärt, dass die Leute anhand deines Fußballclubs, deiner Schule oder sogar an der Art, wie du das Alphabet aufsagst, dich einer Gruppe zuordnen können.
Was das alles allerdings noch viel komplizierter macht, ist die Tatsache, dass es nicht einfach "Katholiken gegen Protestanten" oder "Nationalisten gegen Loyalisten" heißt, sondern dass sich z.B. die protestantischen Gruppen auch noch untereinander bekämpfen. Diese Konflikte werden von paramilitärischen Gruppen ausgetragen, die zum Beispiel auch im Drogenhandel miteinander konkurrieren. Das für uns so Unvorstellbare ist dabei, dass diese "paramilitaries" in ihren Vierteln (auch in Carrickfergus) die Macht haben, sodass sich die Menschen dort bei Verbrechen an "ihre Gruppe" wenden würden und nicht an die Polizei.
Die Allgegenwärtigkeit dieser paramilitärischen Gruppen wird durch die sogenannten "murals" überdeutlich. Murals sind eine Art Wandmalerei (das hört sich nur meiner Meinung nach zu friedlich an), die quasi Propagande zum Beispiel für die Ulster Defense Association machen oder geschichtliche Themen behandeln.
Mural in Belfast
Dieses Mural ist in Belfast und zeigt Martin Luther und seinen berühmten Ausspruch "Hier stehe ich und kann nicht anders". Hier kann man auf einen Blick erkennen, dass man sich in einem protestantischen Gebiet befindet, da 1.) das Mural sich auf die Reformation bezieht und 2.) überall britische Flaggen gehisst sind, also ein Zeichen der Loyalisten.
Was mir wirklich einen Schauer über den Rücken gejagt hat, sind die Murals der paramilitaries, da diese mehr oder weniger direkt Gewalt im Kampf gegen "die Anderen" fordern.
Murals in Derry
 Besonders die Formulierung "You are now entering free Derry" erinnert mich unheimlich an die DDR, nur mit dem gewaltigen Unterschied, dass man in Belfast/Derry/... noch wirklich einen anderen "Sektor" betritt. An dem Ende fast jeder Hausreihe befinden sich Murals, die dazu aufrufen, die "gefallenen Krieger" nicht zu vergessen, die Gefangenen zu befreien oder schlichtweg Irland oder Großbritannien favorisieren. Dabei gibt es echte Kampfansagen wie "Ready for peace, prepared for war" ("Bereit für Frieden, vorbereitet für den Krieg") unter Bildern, die Soldaten oder bewaffnete Zivilisten zeigen. Es ist wirklich ein beklemmendes Gefühl, all diese gewaltbereiten Sprüche und Bilder zu sehen und zu wissen, dass sie die Realität widerspiegeln. Deshalb haben wir auch nicht noch mehr Fotos gemacht, da es sich einfach falsch anfühlt, "Touristenfotos" von Dingen zu machen, die auf das Leben der Leute so gravierende Auswirkungen haben. Dabei hat uns Alec erklärt, dass wir als ausländische Touristen in diesen Gegenden wahrscheinlich sicherer sind als er als Nordire mit britischem Pass.
In Derry gibt es erst seit Kurzem die sogenannte Peace Bridge, die den vowiegend protestantischen Teil der Stadt mit dem katholischen verbindet:
Peace Bridge in Derry
 Derry wird im nächsten Jahr die britische Kulturhauptstadt sein, was Alec nach ziemlich merkwürdig ist, da die meisten Einwohner Derrys nicht zu Großbritannien gehören wollen. Laut Fahrplan an der Bushaltestelle in Carrick fuhr unser Bus auch nach Londonderry, wobei man diesen Namen dort vermeiden sollte, da die meisten Leute "Anti-Großbritannien" sind und den Namen Derry bevorzugen (und das heißt nicht, dass sie den Namen Londonderry einfach nicht so nett finden, sondern dass man lieber vermeiden sollte, ihn dort überhaupt auszusprechen!). Wir "Ausländer" hatten natürlich generell viele Fragen über die diversen Konflikte, die uns Alec jedoch lieber erläutert hat, wenn keine "Einheimischen" in der Nähe waren, die sich in irgendeiner Art und Weise angegriffen fühlen könnten.
Wenn auch die Murals, die Gewalt und Geschichte so offensichtlich verherrlichen und propagandieren, für Miri, Roberto und mich schwer zu begreifen waren, war das in keiner Weise mit der "Peace Wall" zu vergleichen. Da ich beim Vorbereitungsseminar in Deutschland mein Einsatzland vorstellen musste, hatte ich mir vorher eine Art Basiswissen bei Wikipedia angelesen (wie damals in der Schule :P) und war dort auch auf den Begriff "Peace Wall" ("Friedensmauer") gestoßen. Bei dem Wort Mauer denkt man als Deutsche unweigerlich an die Berliner Mauer und tatsächlich habe ich Bilder im Internet gefunden, die die "Peace Wall" mit Wandmalereien zeigen, die mich sehr an die East Side Gallery erinnern, das Stück der Berliner Mauer in Kreuzberg, das von Künstlern aus aller Welt angemalt wurde. So hatte ich mir das Ganze auch in Belfast vorgestellt: ein Reststück der Mauer, das erhalten und künstlerisch gestaltet wurde, um Geschichte für Touristen, Schüler,... zu veranschaulichen, also mit einer eher repräsentativen Funktion.
"Peace Wall"
Die "Peace Wall" in Belfast ist anders, und zwar vollkommen anders. Sie ist 40 Feet hoch (ca. 12 Meter), oder in Alecs Worten "Hoch genug, dass man nichts auf die andere Seite werfen kann". Auch wenn sie angemalt ist, ist sie keinesfalls einfach eine Sehenswürdigkeit, denn ihre wichtigste Funktion ist weiterhin die einer Mauer: trennen. Und zwar das loyalistische/protestantische vom nationalistischen/katholischen Wohnviertel. Den Bewohnern vermittelt diese Mauer Sicherheit, da sie die beiden verfeindeten Gruppen auseinanderhält und damit Unruhen vorbeugt. Für mich ist es schwer vorstellbar, dass dieser Zustand dort so alltäglich ist und dass eine Mauer scheinbar die einzige Möglichkeit ist, die Konflikte zu begrenzen. Von "Frieden", also peace, kann meiner Ansicht nach nicht die Rede sein, eher von Vorbeugung von Kämpfen.
Alec hat uns erzählt, dass viele der Touristen, die in den Doppeldeckerbussen wie zu den anderen "Sehenswürdigkeiten" angekarrt werden, Sprüche an die Mauer schreiben wie "Don't worry be happy!". Ich weiß nicht, aber das ist wirklich kein Ort, an dem ich den Menschen raten würde, "sich keine Gedanken zu machen sondern einfach fröhlich zu sein". Im Nachhinein haben Miri und ich festgestellt, dass allein die Murals und die "Peace Wall" (ich MUSS diesen Begriff einfach in Anführungszeichen setzen) uns schon genug Stoff zum Nachdenken gegeben hätten, ohne das übliche Sightseeing in Derry (oder eben Londonderry). Diese Konflikte erinnern einfach in so vielen Punkten an die Berliner Mauer und die DDR, aber das ist für uns eine Zeit, an die erinnert werden muss, aber die abgeschlossen ist. Davon kann in vielen nordirischen Städten nicht die Rede sein, noch heute schicken die Eltern ihre Kinder auf die "richtige" Schule und wenden sich bei Schwierigkeiten lieber an die paramilitärischen Gruppen als an die Polizei. Kein Wikipedia-Artikel kann einem das Gefühl vermitteln, vor dieser riesigen "Peace Wall" zu stehen ohne auf die andere Seite sehen zu können oder in Derry konzentriert darauf zu achten, ja nicht den Namen Londonderry zu erwähnen.
Es war wirklich ein bewegender Tag, der die Nachwirkungen des Nordirlandkonflikts sehr nahe an uns herangrückt hat und mir und Miri auch jetzt nach Mitternacht immer noch Redebedarf gibt. Ich hoffe, euch interessiert dieser kleine Ausflug in die nordirische Geschichte/Gegenwart; ich musste das Ganze irgendwie erstmal zumindest halbwegs verarbeiten...

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